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Ewigkeitschemikalien in Medizinprodukten
Seit einiger Zeit steht eine Gruppe von Industriechemikalien im Fokus des Interesses. Es handelt sich dabei um Per- und polyfluorierte Alkylverbindungen, kurz PFAS. Diese kommen auch zum Teil in Brillengläsern oder Kontaktlinsen vor. Ein Verbot wurde gefordert – Industriebetriebe vieler betroffener Branchen positionierten sich gegen ein solches. Wie ist der Stand der Dinge?

Vor einiger Zeit berichteten wir bereits über diese PFAS – die sogenannten Ewigkeitschemikalien. Nun erreichte die Optikernetz-Redaktion eine Nachfrage. Eine Leserin wollte wissen, ob sich PFAS auch in Intraokularlinsen (IOL) finden. Zwar handelt es sich dabei nicht um Produkte, mit denen der Augenoptiker direkt zu tun hat, aber er versorgt viele Kunden nach Staroperationen und ist für viele ein zentraler Ansprechpartner. Insofern möchten wir dieser Frage nachgehen und gleichzeitig beleuchten, wie es aktuell um die Diskussion um die Chemikalien steht.
Hintergrund
Es geht um vermutlich rund 10.000 Substanzen, die bestimmte Eigenschaften besitzen, durch die sie für Hersteller bestimmter Alltagsprodukte wertvoll sind – und zum Teil alternativlos. Sie sind wasser- und schmutzabweisend, was sie ideal macht für den Einsatz in Outdoor-Bekleidung oder für beschichtete Pfannen. Und genau das sind auch Eigenschaften, die diese Verbindungen wertvoll für die Medizintechnik machen. Denn schmutz- und wasserabweisend bedeutet im Grunde „glatt“ – unwissenschaftlich gesprochen also so glatt, dass sich kein Gewebe damit verbindet.
Das Problem ist, dass sich diese Stoffe in der Umwelt anreichern und aufgrund ihres Aufbaus sind sie so gut wie nicht abbaubar. Da sich daraus ergebende mögliche Risiken durch die Verwendung von PFAS nicht umfänglich geklärt sind, reichten fünf europäische Länder, darunter auch Deutschland, 2023 einen Vorschlag zur Beschränkung aller PFAS bei der Europäischen Chemikalienagentur (ECHA) ein. Demnach sollten PFAS überall verboten werden, wo es in absehbarerer Zeit Alternativen geben kann.
Auch in der Augenoptik finden sich PFAS
Damit Antibeschlagmittel, wie sie z.B. in Reinigungssprays oder speziellen Putztüchern zum Einsatz kommen, feuchtigkeitsabweisend wirken, würden darin teilweise schädliche PFAS verwendet, so war seinerzeit in einer Pressemeldung der Verbraucherzentrale NRW vom 28. Dezember 2020 zu lesen. Wir sprachen damals dazu mit Dr. Kerstin Effers, Referentin Umwelt und Gesundheitsschutz.
Das vollständige Interview finden Sie hier.
Die Ausführungen der Verbraucherzentrale leiteten wir anschließend an Dr. Andreas Berke, damals Schulleiter der HFAK, weiter mit der Bitte um eine Einschätzung von Seiten „der Augenoptik“.
Seine Einschätzung lesen Sie hier.
Es bleibt aber nicht bei Brillenglasbeschichtungen. PFAS finden sich auch in Kontaktlinsen. Laut EuromContact, der europäischen Vereinigung der Kontaktlinsenhersteller, werden drei PFAS zur Herstellung von formstabilen Kontaktlinsen verwendet.
Wir verhält es sich nun mit Intraokularlinsen? Werden auch hier PFAS verwendet und besteht berechtigter Grund zur Sorge? Ein Gedanke, der erst einmal nachvollziehbar ist. Immerhin besteht doch ein gewaltiger Unterschied zwischen einer Regenjacke, einer beschichteten Pfanne und einem Medizinprodukt, das im Körper eingesetzt wird und dort verbleibt.
Auf Nachfrage unserer Redaktion erhielten wir aus der Industrie die Information, dass PFAS nicht generell in allen IOL vorkommen, sondern nur in bestimmten Typspezifizierungen - dort, wo es medizinisch indiziert und notwendig ist. Dabei würden sich die Mengen pro IOL unter Milligramm-Bereich bewegen. Verwendet werden PFAS aufgrund ihrer Persistenz und da sie dazu führen, dass sich die Linsen unter UV-Licht, bei Bewegung und durch biologische Abbauprozesse nicht zersetzen. Einigkeit bestehe weitgehend darüber, dass man PFAS ersetzen würde, wäre dies möglich. Allerdings gibt es schlicht keine Alternativen.
Die Sorgen der Verbraucher seien verständlich. Allerdings gründen diese, so ist zu vermuten, eher auf Meldungen, die andere Bereiche betreffen und sich letztlich auf unsachgemäße Anwendung zurückführen ließen. Die gesamte Diskussion ziele derzeit eher auf Verbraucherprodukte ab, und nehme noch nicht die Medizintechnik in den Blick.
Genau das sollte aber getan werden. Denn ein flächendeckendes Verbot der Stoffe würde zahlreiche Industriezweige – nicht nur die Medizintechnik – um Jahrzehnte zurückwerfen.
Nicht umsonst hat sich auch der Industrieverband SPECTARIS in die Diskussion eingeschaltet.
Der Verband hat 2023 ein Positionspapier verfasst: „[…] SPECTARIS unterstützt das Ziel der Nachhaltigkeitsstrategie für Chemikalien, den Schutz der Menschen und der Umwelt vor Risiken durch toxische Chemikalien zu verbessern und zugleich die Wettbewerbsfähigkeit der EU-Industrie zu erhöhen. Europa tut gut daran, eine Vorreiterrolle beim Thema PFAS zu übernehmen und mit Innovationen am Ersatz zu arbeiten, wo immer das geht. Im Rahmen einer nachhaltigen Chemikalienregulierung sollten die Stoffe, von denen aufgrund ihrer Eigenschaften und ihres Verwendungsprofils nicht beherrschbare Risken ausgehen, auf Basis wissenschaftlicher Bewertungen beschränkt bzw. reguliert werden, vor allem bei Verbraucherprodukten. Die breite Regulierung ganzer Stoffgruppen unabhängig von deren nachgewiesenem Risiko lehnt SPECTARIS jedoch strikt ab. Eine dermaßen restriktive Regulierung würde Europa, seinen Bürgern und seiner Industrie irreparable Schäden zufügen, auch weil außerhalb der EU keine derartig umfassende Beschränkung der PFAS-Stoffgruppe existiert. […]“
Weiter wird deutlich gemacht, warum PFAS so wichtig sind: „Sie kommen in Alltagsprodukten wie Kosmetika, Regenjacken und Pfannenbeschichtungen vor. Aber auch in industriellen Prozessen spielen sie eine große Rolle. Den PFAS wird in Hochleistungswerkstoffen genau die technische Eigenschaft zum politischen Verhängnis, wegen der sie eingesetzt werden und überwiegend unersetzbar sind: ihre Langlebigkeit und Widerstandsfähigkeit auch in essentiellen Anwendungen, industriellen Hightech-Produkten und Produktionsprozessen. So sind große Bereiche der Halbleiterherstellung, der Analysen-, Bio- und Labortechnik, der Augenoptik oder der Medizintechnik durch das PFAS-Verbot direkt gefährdet, und zwar nicht nur die Produkte an sich, sondern auch die zu ihrer Herstellung benötigten Produktionsprozesse. […]“
Der Industrieverband spricht sich für eine spezifische Risikobewertung aus. Ohne diese würden dringend benötigte Chemikalien künftig nicht mehr auf dem Markt verfügbar sein und innovative Zukunftstechnologien nicht entwickelt werden können.
Für zahlreiche Produkte aus der Medizintechnik ist die Verwendung von PFAS unverzichtbar, heißt es aus der Industrie. Bei der Suche nach alternativen chemischen Verbindungen würde man letztlich auf andere Stoffe stoßen, die ähnliche persistente Eigenschaften aufweisen – und damit die gleichen „Probleme“ mit sich bringen.
Fälle, in denen es zu durch PFAS verursachte Schäden bei Medizinprodukten gekommen sei, seien nicht bekannt. Zudem seien gerade Medizinprodukte sehr sicher, denn sie gehören zu den am strengsten kontrollierten Produkten. Das bestätigt auch SPECTARIS in seinem Positionspapier: „Medizinprodukte, die in Körperkontakt kommen, haben die Biokompatibilität nach DIN EN ISO 10993 nachzuweisen. Karzinogene, mutagene und reproduktionstoxische Substanzen (CMR) sowie Stoffe mit endokrin wirkenden Eigenschaften dürfen in Medizinprodukten nur in kleinsten Mengen von bis zu maximal 0,1 % Massenanteil vorkommen. Nur, wenn es keine Alternativmaterialien gibt und darüber hinaus nach streng vorgegebenen Kriterien der Nutzen der eingesetzten Stoffe das Risiko für Anwender und Patienten überwiegt, dürfen diese Substanzen über dem vorgegebenen Grenzwert eingesetzt werden.“
Das SPECTARIS-Positionspapier zu PFAS finden Sie hier.
Von März bis September 2023 erstreckte sich die Konsultationsphase zum geplanten PFAS Verbot. 5.600 Änderungsvorschläge gingen bei der zuständigen europäischen Chemikalienagentur ein. Darunter auch Schreiben aus der augenoptischen Industrie, wie vom genannten Industrieverband Spectaris oder EuromContact.
Im Mai dann stellte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) in einem Brief an die EVP-Fraktion im EU-Parlament Ausnahmeregelungen von dem geplanten Verbot für wichtige Bereiche wie die Medizintechnik in Aussicht.
Mit konkreten Ergebnissen ist wohl erst im Frühjahr 2025 zu rechnen.
Gesundheitsrisiko
PFAS kommen auch in Produkten wie Kontaktlinsen und Intraokularlinsen vor. Es handelt sich bei diesen Produkten aber um streng reglementierte Medizinprodukte die besonderen Prüfverfahren unterliegen. Es ist davon auszugehen, dass PFAS auch weiterhin Verwendung finden, da sie essenziell und alternativlos sind. Wichtig sind sie bei Kontaktlinsen, damit deren Oberfläche wasser- und schmutzabweisend sind.
Aus der Industrie heißt es, es müsse immer zwischen Risiko und Nutzen abgewogen werden – kein Risiko werde leichtsinnig in Kauf genommen.
Sorgen von Verbrauchern werden ernst genommen. Aber eine unsachliche Panikmache ist in dieser Debatte fehl am Platz. Eine Mahnung, die auch deutlich in Richtung der Medien geht. Darum ist es unserer Redaktion wichtig, aufzuklären – soweit dies zum jetzigen Zeitpunkt möglich ist.
So, wie Hersteller in der Pflicht sind, Risiken abzuwiegen, so haben auf der anderen Seite auch Verbraucher eine moralische Verpflichtung. Zwar ist die Entscheidung gegen eine bestimmte Bratpfanne eine andere, als eine Entscheidung für oder gegen eine IOL – aber hier wird das Dilemma deutlich, welches das Erfordernis einer differenzierteren Diskussion illustriert.
Grundlegend für Hersteller ist die Abwägung zwischen Risiko und Nutzen – in diesem Fall für Hersteller von IOL zwischen theoretischem (noch zu untersuchendem) Risikopotential für die Umwelt und der Wiedererlangung der Sehkraft.
An diesem Punkt der Abwägung von Risko und Nutzen in einzelnen Fällen befindet sich der Prozess auf europäischer Ebene.
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