Am 28.11.2013 fand in Kassel der Verhandlungstermin beim Bundessozialgericht (BSG) in den so genannten Musterverfahren der TK-Klagen statt. Dort hat Rechtsanwalt Dr. Rainer Schütze, Dortmund, die beiden betroffenen Betriebe vertreten, deren Verfahren nun entschieden wurde. Wie bereits in der vergangenen Woche im Optikernetz berichtet, war der Ausgang des Verfahrens in letzter Instanz ein voller Erfolg für den AOV NRW. Zu diesem für viele Betriebe wichtigen Prozess führte die optikernetz-Redaktion jetzt ein ausführliches Hintergrundgespräch mit RA Dr. Schütze.
optikernetz: Herr Dr. Schütze, bitte kurz zur Erinnerung – was war der Hintergrund der Musterverfahren?
Dr. Schütze: Zunächst hatte die TK gegen Ende des Jahres 2007 den AOV NRW mit einer Statistik von Auffälligkeiten bei Abrechnungen von Augenoptikbetrieben konfrontiert und dazu aufgefordert, zu kooperieren. Der Verband sollte dabei mitwirken, bestimmte Betriebe (in NRW ca. 230) dazu zu veranlassen, bereits gezahlte Beträge für angeblich falsch abgerechnete Versorgungen zu erstatten. Das hat der Landesinnungsverband abgelehnt.
Daraufhin hat die TK in den letzten Tagen des Jahres 2007 ca. 230 Betriebe in NRW bei verschiedenen Sozialgerichten verklagt. Zu diesen verklagten Betrieben gehören auch die beiden Betriebe aus NRW, für die ich die später so bezeichneten Musterverfahren geführt habe.
In allen Klagen wird zunächst Herausgabe sämtlicher Unterlagen für die Jahre 2001-2003 verlangt – erst nach Auswertung der Unterlagen sollen dann später noch die jeweiligen Erstattungsforderungen beziffert werden.
Das Sozialgericht Aachen hat als erste Instanz die beiden von mir vertretenen Augenoptikerbetriebe zur Herausgabe aller Unterlagen verurteilt. Es hat dabei die Ansicht vertreten, dass Forderungen der Kassen auf Rückzahlung zu Unrecht abgerechneter Beträge erst vier Jahre, gerechnet ab Kenntnis von einer fehlerhaften Abrechnung verjähren.
Gegen diese beiden Urteile wurde Berufung zum Landessozialgericht NRW in Essen eingelegt.
Das LSG Essen hat die Urteile des SG Aachen jedoch bestätigt und sogar die Ansicht vertreten, die Rückforderungsansprüche seien erst nach 30 Jahren verjährt.
optikernetz: Damit wären aber doch praktisch alle Augenoptikerbetriebe in Deutschland möglicherweise betroffen?
Dr. Schütze: Ja, das ist im Prinzip richtig. Die Urteile des LSG Essen haben die Tür zu einer unabsehbaren Vielzahl von Regressverfahren der Ersatzkassen gegen Augenoptiker ganz weit aufgestoßen. Daher war es ja auch so wichtig, dass der AOV NRW im Namen seiner Mitglieder Rückgrat bewiesen hat und sich entschieden hat, die betroffenen Mitgliedsunternehmen bei der Abwehr der Klagen zu unterstützen.
optikernetz: Gegen die Urteile des LSG haben Sie aber dann Revision zum Bundessozialgericht eingelegt. Das war im Jahr 2012. Was passierte dann?
Dr. Schütze: Daraufhin sind dann alle anderen ca. 200 noch laufenden Verfahren von den Gerichten ausgesetzt worden – alle Gerichte haben also nicht weiter selbst geprüft, sondern nur auf die Entscheidung der letzten Instanz in Kassel in den Musterverfahren gewartet. Auch dies war eine Folge davon, dass der AOV NRW als starke Interessengemeinschaft aufgetreten ist und die Belange seiner Mitglieder zielgerichtet vertreten hat.
optikernetz: Wie ist die Verhandlung in Kassel verlaufen?
Dr. Schütze: Die Stimmung war sehr angespannt. Es wurde in erster Linie eingehend erörtert, ob es überhaupt eine Anspruchsgrundlage für die Forderung der TK auf Herausgabe sämtlicher Unterlagen gibt. Hierzu hatten die Vorinstanzen gemeint, diese lasse sich im Wege der ergänzenden Auslegung aus dem Rahmenvertrag aus dem Jahr 1994 entnehmen.
Es wurde in der Diskussion jedoch deutlich, dass das BSG in diesem Punkt der von mir vertretenen Auffassung folgt, wonach eine ergänzende Auslegung des Vertrages in diese Richtung hier gerade nicht möglich ist. Der verfolgte Anspruch auf Herausgabe sämtlicher Unterlagen wurde vom BSG daneben auch als viel zu weitgehend gekennzeichnet.
Damit war klar, dass die Klage hinsichtlich der „Herausgabe sämtlicher Unterlagen“ abgewiesen werden würde.
optikernetz: Hat sich das BSG denn dann zur Frage der Verjährung überhaupt noch geäußert?
Dr. Schütze: Ja. Die Verjährung spielt ja nur auf der zweiten Stufe, wenn es also um das Beziffern von Rückforderungen geht, überhaupt eine Rolle. Das BSG erklärte dazu, dass eine Verjährung von vier Jahren läuft, beginnend am Ende des Jahres, in dem die Abrechnung eingereicht wurde. Es kommt dabei auf Kenntnis von möglichen Abrechnungsfehlern nicht an. Damit ist alles verjährt außer den Abrechnungen, die in 2003 und ggf. noch in 2004 eingereicht wurden. Das BSG ergänzte dazu aber außerdem, dass es eine Verwirkung bereits zu einem früheren Zeitpunkt annehmen würde, da zuvor von der TK stets alles ungeprüft bezahlt worden war. Für „normale fehlerhafte Abrechnungen“ können danach also keine Nachforderungen mehr gestellt werden.
Einzige Ausnahme sind so genannte Betrugsfälle: Wenn also ausnahmsweise anhand der Unterlagen, die die Kasse bereits hat, einem Betrieb eine betrügerische Abrechnung nachgewiesen werden kann, kann die Kasse tatsächlich 30 Jahre lang ihre Rückforderung verfolgen. Der Vorsitzende erklärte dazu ausdrücklich, dass es allerdings in den beiden Musterfällen bisher keine Anhaltspunkte dafür gebe, dass ein Betrug vorliegt. Trotzdem hat die TK jetzt noch die Möglichkeit, alle ihre Unterlagen daraufhin zu sichten und ggf. Forderungen in einzelnen Fällen zu formulieren. In den beiden Musterverfahren wird dies aller Voraussicht nach allerdings nichts bringen.
optikernetz: Rechnen Sie überhaupt – also auch in den derzeit ausgesetzten Verfahren – mit vielen Fällen, in denen die TK einem Betrieb Betrug nachweisen kann?
Dr. Schütze: Nein. Ich gehe davon aus, dass nur in ganz wenigen Einzelfällen über Betrug gesprochen werden wird und im Übrigen der weitaus überwiegende Teil der Klagen von der TK beendet wird. Alle Betroffenen werden hierzu natürlich individuell benachrichtigt.
optikernetz: Sind denn mit der Entscheidung des BSG nun die Urteile des SG Aachen und des LSG Essen endgültig vom Tisch?
Dr. Schütze: Ja. Diese Urteile sind vom BSG „abgeändert“ worden – und da das BSG die letzte Instanz war, sind sie also tatsächlich aus der Welt. Neue „Nachberechnungen“ von Ersatzkassen gegenüber Augenoptikern dürften also jetzt eigentlich nicht mehr vorkommen.
optikernetz: Wann ist damit zu rechnen, dass das begründete Urteil des BSG veröffentlicht wird?
Dr. Schütze: Das kann durchaus noch bis Anfang kommenden Jahres dauern. Das Urteil wird aber dann angekündigt und auf der Homepage des Landesinnungsverbands zum Download zur Verfügung gestellt.
optikernetz: Vielen Dank für das Gespräch.