Anlässlich des Kongresses „Essilor Impulse 2012“ in Berlin führte Hartmut Dworak, Geschäftsführer von Essilor (Suisse) SA, am 19. Oktober ein Interview mit Bernard Maitenaz. Maitenaz ist der Schöpfer von Varilux und gilt als Erfinder des Gleitsichtglases. Hartmut Dworak: Bernard, zuerst möchten wir uns alle bei Dir bedanken, dass Du die Reise nach Berlin angetreten hast. Es ist für uns eine große Ehre den Mann bei uns zu haben, der die Erfolgsgeschichte Gleitsichtglas von Anfang an entwickelt und mitgestaltet hat. Sozusagen ein Zeitzeuge aus erster Hand.
Bernard Maitenaz: Ich bin es, der sich bei Dir für die Einladung zu dieser Präsentation bedankt. Du weißt ja, ich bin immer bereit, wenn es darum geht, über Varilux zu sprechen. Das gibt mir auch Gelegenheit, Freunde aus der Branche und von Essilor wiederzusehen. Ich mache das gerne, da es mir meine Kräfte noch erlauben.
Hartmut Dworak: Als Du uns den Termin zugesagt hast, schriebst Du uns, dass Du vor 50 Jahren hier in Berlin auf einem Kongress einen Vortrag gehalten hast. Kannst Du uns etwas über diesen Kongress erzählen?
Bernard Maitenaz: Ja, vor 50 Jahren, im Mai 1962, fand hier in Berlin ein internationaler Kongress für Optik und Optometrie statt. Ich kam her um eine Konferenz zum Thema Gleitsichtgläser zu halten. Eigentlich war es das zweite Mal, dass ich nach Deutschland kam, um über Varilux zu sprechen. Das erste Mal war es 1960, anlässlich des Optiker-Kongresses in Garmisch Partenkirchen.
Hartmut Dworak: Der deutschsprachige Raum hatte ein etwas anderes Verständnis von der Optik. Wie hat die deutschsprachige Optikfachwelt Deine Erfindung damals aufgenommen? Was waren damals die besonderen Herausforderungen auf dem deutschen Markt?
Bernard Maitenaz: In Deutschland hatte sich die übliche, anfängliche Neugierde schnell in Ungläubigkeit und sogar Feindseligkeit gewandelt. Ein Brillenglas mit Aberrationen, das war 1960 eine Heresie, das konnte nur schlecht sein.
Zu der Zeit machten die deutschen Optiker Jagd auf Aberrationen, und je weniger ein Glas davon aufwies, desto besser wurde es eingestuft. Das war – und das ist auch immer noch – durchaus richtig bei Einstärkengläsern. Bei den Multifokalgläsern ist das Problem aber anders gelagert: Es ging darum, zu wissen, ob ein bifokales Glas, welches ein zweigeteiltes Bild präsentiert, besser ist als ein Progressivglas, das zwar seitliche Abweichungen aufweist, aber dafür ein vollständiges Bild. Da die deutsche Schule und Industrie damals sehr einflussreich waren, waren alle deutschsprachigen Optiker gegen Aberrationen allergisch. Und damit diesem neuen Konzept gegenüber besonders feindlich eingestellt.
Wir mussten also Informations- und Schulungsarbeit leisten, um zu beweisen, dass diese Annahme nicht begründet war, dass es besser war, den Mittelpunkt des Glases frei zu lassen und seitliche Abweichungen in Kauf zu nehmen, und dass ein Gleitsichtglas, insofern es richtig angepasst wird, mit dem bifokalen Glas durchaus rivalisieren und es hinsichtlich Sehkomfort sogar übertreffen konnte.
Diese schwierige Missionarsarbeit hat viele Jahre gedauert. Die Idee des Gleitsichtglases wurde von den deutschsprachigen Optikern erst wirklich akzeptiert, als ein großer deutscher Hersteller unter seiner Marke ein Progressivglas einführte, das von uns hergestellt wurde.
Dann liefen die ersten Patente aus und die Hersteller haben zaghaft einige Gleitsichtgläser in ihren Katalogen aufgenommen. Schlussendlich wurde das Konzept, das am Anfang so sehr kritisiert wurde, von allen adoptiert und es hat alle Kontinente erobert.
Hartmut Dworak: Du hast alle Entwicklungen der Varilux Familie als Entwickler, Präsident und Generaldirektor, Aufsichtsratsmitglied und heute als wichtiger Gesprächspartner für die Mitarbeiter der Forschungs- und Entwicklungsabteilung entwickelt, mitgestaltet und beeinflusst. Was waren die wichtigsten Etappen?
Bernard Maitenaz: In der Tat habe ich zwei Berufe ausgeübt, Ingenieur und Unternehmensleiter, aber eigentlich waren beide Aktivitäten sehr miteinander verflochten. Der Ingenieur und Erfinder musste seine Idee von einem Gleitsichtglas in ein konkretes Konzept umsetzen. Das heißt, Rechnungsmethoden und Maschinen finden, die komplexe Flächen herstellen konnten. Auf diesem Weg gab es zwei wichtige Etappen. 1959 die Einführung des ersten Varilux Gleitsichtglases und 1972 die Kommerzialisierung der zweiten Generation mit einem wesentlich besseren Sehkomfort.
Der Unternehmensleiter hingegen hatte andere Aufgaben. Er musste Essilor weiterentwickeln, gestützt auf den beiden Stärken über die er verfügte. Das waren vor allem das Varilux und das Kunststoffglas Orma, das erste Brillenglas aus robustem, organischem Material. Ziel war es, die ausländische Konkurrenz einzuholen, und zu überholen. Dieses Ziel konnten wir 1986 verwirklichen, in diesem Jahr sind wir Nr. 1 der Branche geworden. Meine Nachfolger haben diese Entwicklung weitergeführt und den Abstand vergrößert. Heute sind wir größer als Nr. 2 und 3 zusammen.
Jeder dieser Berufe hat mir viele Genugtuungen gebracht, ganz unterschiedlicher Art.
Der Ingenieur wurde für seine Anstrengungen belohnt, wenn ein theoretischer oder praktischer Widerstand eine Lösung fand. Ein bisschen wie beim Schachspielen, wenn man eine Strategie findet, die zum Sieg führt. Das ist ein sehr stimulierendes Spiel, von dem man sich einnehmen lässt und womit man leicht Nächte und Wochenenden verbringt.
Als Unternehmer sind es die Ergebnisse des Teams, die mich beflügelt haben. Gruppiert anlässlich der Generalversammlungen, oder wenn meine Partner mir nach der Jahresbilanz ihr Vertrauen erneuerten. Von Seinesgleichen zur Durchführung eines Programmes gewählt zu werden, die Akzeptanz einer Strategie durch Gleichgestellte zu erfahren, das gab dem Firmenchef große Stärke.
Auch heute noch, trotz der Firmengröße von Essilor, wird der Präsident von den 5000 führenden Mitarbeitern des Unternehmens gewählt, deren Verbund Hauptaktionär von Essilor ist. Ich bin seit zwanzig Jahren im Ruhestand, aber ich bin immer noch verbunden mit meinen beiden Berufen: Als Gast des Verwaltungsrates und Mitglied der Führungsgremiums verfolge ich die Strategie von Essilor und ihre Entwicklung auf allen Kontinenten.
In engem Kontakt mit der Abteilung Forschung & Entwicklung bin ich informiert über die neuen Orientierungen und verfolge alle Arbeiten mit leidenschaftlichem Interesse. Über die Resultate, die heute präsentiert werden, bin ich ganz besonders stolz.
Hartmut Dworak: Wie siehst Du die S-series Produkte im Vergleich zu den bisherigen Produkten? Ist es eine Weiterentwicklung oder eine neue Etappe? Können wir wirklich von einer Revolution sprechen?
Bernard Maitenaz: Das Varilux Glas von 1959 war mit einer sphärischen Weitsichtzone ausgestattet, unterhalb derer sich eine Gleitsichtzone für die Nahsicht befand. Diese Struktur wurde adoptiert, weil sie der Struktur der damaligen Bifokalbrille am nächsten kam. 1972 habe ich einen wichtigen Schritt getan, denn Varilux 2 war vollständig asphärisch.
Daraufhin adoptierten alle diese neue Struktur als Modell für die Herstellung von Gleitsichtgläsern. Die Gläser unterschieden sich nur durch die Verteilung der seitlichen Asphären, um das Sehfeld zu optimieren, Verzerrungen zu reduzieren oder die Anpassung zu erleichtern. Obwohl der so erbrachte Sehkomfort sehr unterschiedlich war, stammten die Flächen aber alle aus der gleichen Familie, und zwar der vom Varilux 2, mit einer einzigen Fläche, die die Sehstärke gleitend moduliert.
Mit Varilux S series geht man jetzt ganz andere Wege. Die Asphären, die zur Variation der Stärken notwendig sind, werden auf beide Seiten des Brillenglases verteilt. Diese Verteilung wiederum wird optimiert um den bestmöglichen Sehkomfort zu erhalten. Die Tatsache, dass man diese Verteilung berechnen kann, und dann beide Seiten präzise nach den Rechnungen herstellen kann, stellt einen sehr großen wissenschaftlichen und technologischen Fortschritt dar. In diesem Sinne kann man von einer Revolution sprechen.
Hartmut Dworak: Was sind Deine Eindrücke von Varilux S series?
Bernard Maitenaz: Selbstverständlich trage ich diese neuen Gläser und bin damit sehr zufrieden. Leider kann ich aber nicht von all ihren Vorzügen profitieren, da ich keine zentrale binokulare Sicht mehr habe, aufgrund einer Netzhautoperation, die zu spät vorgenommen wurde. Alle Feedbacks, die ich persönlich erhalten habe, bestätigen das Testurteil: Es handelt sich um ein sehr bedeutsames Glas. Ich bin sicher, dass es die Geschichte der Gleitsichtgläser prägen wird.
Dieses einzigartige Ergebnis ist die Frucht eines langwierigen Prozesses, der sich auf zahlreiche, über die Jahre angehäufte Studien stützt. Ausgehend von einer neuen Idee mussten die Berechnungen völlig neu durchdacht werden. Neue Technologien mussten erfunden und umgesetzt werden. Schlussendlich machte die Positionierung auf beiden Glasflächen einen völlig neuen Herstellungsprozess notwendig. Ich würdige den neuen wissenschaftlichen Ansatz, auf dem Varilux S series basiert, und auch die Originalität der neuen Technologien, die für die Herstellung dieses einzigartigen Glases umgesetzt wurden. Als „Ältester“ bin ich glücklich und voller Bewunderung, zu sehen, dass der ursprüngliche, innovative Impuls, der das Renommee von Essilor ausmacht, sich über die Jahre hin fortgesetzt und erweitert hat.
Hartmut Dworak: Welche Nachricht möchtest Du den hier anwesenden Optikern mitgeben?
Bernard Maitenaz: Ich würde sagen: Viele Optiker haben uns bisher ihr Vertrauen geschenkt auf dem Weg der Korrektion der Presbyopie mit Varilux. Varilux S series ist mehr als nur eine Optimierung, es ist ein Sprung vorwärts im Sehkomfort. Die Zufriedenheit und Anerkennung unserer Kunden sind unsere schönste Belohnung. Und die Mund-zu-Mund-Propaganda wird ein Übriges zur Verbreitung hinzutun. Denjenigen, die noch zögern, möchte ich sagen: Hören Sie auf die Reaktionen der Träger von Varilux S series und Sie werden wissen, dass Sie das Glas verwenden müssen.
Sie haben einen vornehmen Beruf: Menschen helfen, wieder besser zu sehen, ist eine sehr wertvolle Aufgabe. Um dies zu erkennen, braucht man nur seine Brille zu verlieren.
Für weniger als einen Euro pro Tag, verbreiten Sie „gute Sicht“ und machen Ihre Kunden glücklich und zufrieden, dank Ihrer Kompetenz.*
Hartmut Dworak: Bernard wir verdanken Dir viel. Vielen herzlichen Dank! Eine optische Welt ohne Varilux wäre nicht vorstellbar. *) Erläuterung des Beispiels von Bernhard Maitenaz:
Sehr vereinfacht, mit runden Zahlen:
Kosten für Varilux Gleitsichtgläser: weniger als 1000 Euro
Durchschnittl. Erneuerungsrate: 3 Jahre (über 1000 Tage)
Weniger als 1000 Euro für mehr als 1000 Tage => entspricht weniger als 1 Euro pro Tag.